Claus Kühnl
Nachschrift zu LA PETITE MORT (1989/2006)

 

 

 

 

 

 

 

1. Einleitung

 

Im Frühjahr 1988 erteilte mir die Direktion der Alten Oper Frankfurt den Kompositionsauftrag für ein Bühnenwerk nach meinen Vorstellungen. Es sollte für die Deutsche Kammerphilharmonie und das Wiener Maskentheater, einer freien Theatergruppe, für das Festival „Frankfurt Feste“ entstehen. Der Rahmen dieses Projektes war zunächst hinsichtlich des Umfangs sowie inhaltlich nicht vollständig festgelegt. Ich begann ein Arbeitstagebuch zu führen und diesem entnehme ich, dass die Komposition genau ein Jahr in Anspruch nahm. Ein weiteres viertel Jahr benötigte ich für die Reinschrift von Partitur und Textbuch.

Die folgenden Abschnitte reflektieren einzelne Stadien der Entstehung des Musiktheaters La petite Mort ebenso wie thematische Voraussetzungen, wobei es mir nicht darum ging, das eigene Stück zu interpretieren. Vielmehr habe ich einigen Spaß daran gefunden, das Thema, mit dessen Bearbeitung ich in gewisser Weise einen Schlussstrich unter wesentliche Erkenntnisse meiner Jugendzeit gezogen hatte, noch eine Zeit lang festzuhalten.

 

 

2. Oper oder Musiktheater

 

Unter Oper im weitesten Sinne verstehe ich eine mit Musik durchsetzte oder gar von ihr dominierte Bühnenhandlung mit Auf- und Abtritten von Meinungsträgern, die mit Monologen oder Dialogen sowie im Ensemble an die Rampe treten und singen oder sprechen. Durchkomponierte oder nicht durchkomponierte Form verweist lediglich auf die Funktion der Musik, ob sie nämlich eine tragende oder nur eine beisteuernde hätte.

In diesem Sinne interessierte mich die Bühne seit meiner Kindheit und Jugend eher weniger. Zahlreiche klassische Opern fand ich sogar abstoßend. Zu den Ausnahmen zählen die folgenden Stücke: Purcells Dido und Aeneas, Mozarts Zauberflöte, Webers Freischütz, alle Wagner-Opern ab der fliegende Holländer, mehrere Opern, die ich als dem Symbolismus und dem Jugendstil zugehörig einordnen würde, aber auch Die Nase von Schostakowitsch, wegen ihrer Drastik und beispiellosen Komik. Meine Lieblingsoper aus dem Repertoire der Vergangenheit blieb Bartóks Werk Blaubarts Burg. Man kann dieser Aufzählung zum mindesten eine Neigung zu Konzepten, in denen die Musik dominiert, entnehmen und beim Freischütz hätte mich die durchkomponierte Fassung von Berlioz, die ich jedoch noch nicht erleben durfte, womöglich mehr in Bann gezogen, als die originale von Weber.

Im Gegensatz zur Oper wäre in unserem Fall von Musiktheater zu reden. Als Gattungsbezeichnung wählte ich den Begriff Phantasmagorie, was zunächst einmal jede auf einer Bühne mögliche Hervorbringung phantastischer Erscheinungen mittels optisch-technischer Mittel kennzeichnet und im engeren Sinne auf die „Wahnbilder“des Protagonisten anspielt. Mein Musiktheater, obwohl ein kleiner Versuch, den ich einst scherzhaft als „Fußnote zum Parsifal“ bezeichnete, sollte in erster Linie ein Fest für Ohren und Augen werden, deren Sinne unmittelbar berührt werden mussten. Wolfgang Rihm hat ausgesprochen, worum es auch uns zu tun war: „Das Extrem ist denkbar: ein Musiktheater ohne Worte. Und was anders sind Aufführungen in „Originalsprache“ vor einem dieser Sprache nicht mächtigen Publikum? Ohne Worte meint allerdings nicht: ohne Textebene. Alle menschlichen  Äußerungen – auch die Körpersprache – sind Text im musikablen Sinn“ [Programmheft zur Hamletmaschine des Nationaltheaters Mannheim 1987/88].

Tatsächlich kommen Dialoge in La petite Mort nicht vor. Die wenigen Worte – bis auf die Gesangsszene im dritten Teil – erfüllen die Aufgabe eines „Wegweisers“. Hier allerdings halte ich eine gute Verständlichkeit der Wörter für wesentlich. Da die Maskendarsteller nicht selbst sprechen oder singen können, bot sich die Verwendung von Mikroports (für das live-Sprechen/Singen etwa innerhalb des Orchestergrabens) oder die Verwendung von Zuspielbändern (die ein Klangregisseur während der Aufführung zu fahren hätte) an. Für die Aufführungen in Hanau und Frankfurt/M. wählten wir die zweite Möglichkeit. [Aufgrund meiner neueren Theater Erfahrungen  würde ich jedoch die erste Möglichkeit bevorzugen, weil der Dirigent die Einsätze und den weiteren zeitlichen Verlauf derartiger Passagen besser steuern kann, was bei meiner Oper Die Geschichte von der Schüssel und vom Löffel problematisch blieb, bei La petite Mort wegen des geringeren Umfangs  jedoch immerhin gut funktionierte. (späterer Zusatz)].

Ein „Musiktheater ohne Worte“ weicht die klare Arbeitsteilung zwischen Autor und Regisseur in gewisser Weise auf, denn das „Libretto-Schreiben“ bedeutet ja nun nicht mehr „Dialoge-Dichten“. Die Handlung von La petite Mort folgt einer Traumlogik und stellt ­– so könnte man sagen – eine „seelische Handlung“ dar, welche bei den „symbolistischen Opern“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Zemlinsky, Schreker, Schoeck, Schönberg) lediglich „hinter“ dem Text, mit anderen Worten, zwischen den Zeilen, vorhanden war. Dieser Bereich bildete beinah so etwas wie eine Parallelhandlung zur vordergründigen Aktion und war voll und ganz der Regie überlassen. In unserem Fall besteht jedoch die Handlung ausschließlich aus diesem Gebiet, weshalb sich schon der Autor über die optischen Zeichen, Symbole und Intonationen, kurz, über die gesamten Vorgänge auf der Bühne von vorne herein im Klaren sein müsste. So gesehen hätte der Komponist gleichzeitig Mitregisseur zu sein.

Während beispielsweise für Franz Schreker, dessen Oper Die Gezeichneten ich gut studiert habe, die „innere Welt“ als Teil seiner Opernkonzepte sichtbar werden sollte – denn: hörbar ist diese beispielsweise ja schon in Wagners Musikdramen – sollte sie in unserem Fall vollständig und ausschließlich sichtbar werden. Schreker schrieb, seine Einfälle hätten „wenig literarisches“: „etwas Geheimnisvoll Seelisches ringt nach musikalischem Ausdruck. Um dieses rankt sich eine äußere Handlung.“ [Seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts kennt man derartige abgehäutete Dramen und vielleicht sind Rihm (Musik) / Klaus vom Bruch (Videoarbeit) mit ihrem Werk Séraphin 1994 hier am weitesten gegangen. (späterer Zusatz)].

In seinem Text Das Theater der Grausamkeit hat Antonin Artaud  die eben skizzierte  Konsequenz  bereits  1936  aus  seiner Sicht auf den Punkt gebracht:
„Um die Inszenierung, betrachtet nicht als simpler Brechungsgrad eines Textes auf der Bühne, sondern als Ausgangspunkt für jede Bühnenschöpfung, wird sich die typische Theatersprache bilden. Und durch den Einsatz und die Handhabung dieser Sprache wird die alte Dualität von Autor und Regisseur verschwinden; sie wird durch eine Art von alleinigem Schöpfer ersetzt werden, dem die doppelte Verantwortung für Schauspiel und Handlung zufallen wird. [„Das Theater und sein Double“, Deutsch von Gerd Henninger, Frankfurt/M. 1979, Fischer Taschenbuchverlag, S. 100]

[Nach der Frankfurter Aufführung im Jahre 1991 – zweihundert Jahre nach Mozarts Tod – im Rahmen der „Frankfurt-Feste“, die ich im Rückblick einen Achtungserfolg nennen würde, wurde der Hanauer Live-Mitschitt des Hessischen Rundfunks (konzertante Uraufführung) bei WERGO als CD veröffentlicht, die im Laufe der Jahre immer wieder Beachtung fand und von mehreren Rundfunkanstalten ganz oder teilweise ausgestrahlt wurde. Für diese Audio-CD-Fassung habe ich in der sechsten Nummer – gegen Ende des  zweiten Teils – ungefähr zwei Minuten herausschneiden lassen (Tonmeister Hans-Bernhard Bätzing) und die siebte Nummer, die früher Ritus hieß, in Tenebrae umbenannt. Der Vorgang in dieser Szene entspricht einer „Initiation“. Ich wollte, dass der Protagonist seine „Angst- und Schmerzprobe“ allein, und nicht, wie ursprünglich gedacht, als Lösung einer von anderen gestellten Aufgabe (Zahlenrätsel) zu bestehen hat, so, als ergebe sich die Befreiung und damit das Erreichen einer höheren Daseinsstufe mehr oder weniger von selbst: der Protagonist muss nur noch durchhalten und einfach weitergehen! Musikalisch musste ich dafür – außer der erwähnten Streichung – nichts ändern. Gesehen hat man die Nummer in dieser Form jedoch auf einem Theater noch nicht, wie denn überhaupt einige Rezensenten, wie beispielsweise Brigitta Mazanec, die Meinung vertraten, das Stück brauche nicht notwendigerweise die Bühne, um zu wirken. Demgegenüber denke ich, eine Bühne sei durchaus wünschenswert, das Stück ist kein reines „Ohrentheater“, jedoch würde ich mich von einer neuerlichen Realisierung mit Maskendarstellern distanzieren wollen, die zwar eine unbestreitbare Faszination auf der Bühne ausgeübt haben, das Stück durch den ausschließlichen Gebrauch der riesigen Masken insgesamt jedoch zu sehr in die Nähe einer Fantasy-Produktion, bzw. einer „Rocky-Horror-Picture-Show“ rückten. (späterer Zusatz)].


3. „…aus dem Geiste der Musik“

Zu Beginn des Jahres 1988 kamen die ersten Gespräche über unser Projekt in Gang: Matthias von Bauznern, der damalige Geschäftsführer der Deutschen Kammerphilharmonie, unterbreitete mir den Vorschlag, ein Musiktheaterstück zu komponieren. Im März lernte ich durch dessen Vermittlung das Ehepaar Thomas und Angelika Kippenberg, die Leiter der erwähnten freien Theatergruppe, kennen. Zum ersten Mal sah ich die von Thomas gefertigten Masken sowie zahlreiche Szenenfotos einiger ihrer früheren Produktionen. Bald war es ausgemachte Sache, dass ich eine Musik schreiben und ein Stück mit Thomas und Angelika für deren Maskentheater entwickeln würde. Nach zwei Begegnungen stand uns das Thema grob vor Augen: der erste Impuls kam von Angelika. Ich entsinne mich noch genau, wie ich ihren ersten Impuls protokollierte, das Geschriebene den beiden beim nächsten Treffen vorlegte, daraufhin Angelika lachen musste und meinte, diese Idee wäre aber stark durch mich hindurch gegangen. Wir begannen wieder von neuem und immer wieder gab es derartige Irritationen, aber wir kamen voran. Abgesehen von dieser inhaltlichen Seite wurde mir bald klar, dass ich sowohl auf mehrere Bläser und Schlagzeug, als auch auf Soundsamples, die ich dem traditionellen Orchester beizumischen gedachte, nicht verzichten wollte. Die Stammbesetzung der Kammerphilharmonie hatte dafür keine Stellen. Aushilfen würden das Projekt erheblich verteuern. Nach zähen Verhandlungen mit der Kammerphilharmonie und der Dramaturgie der Alten Oper (Dr. Dieter Rexroth) wurde die größere Besetzung schlussendlich gut geheißen. Zwischenzeitlich hatte ich schon mit ersten musikalischen Skizzen begonnen, denn wir mussten zu dem Zeitpunkt noch von Herbst 1989 als Uraufführungstermin ausgehen.

Was die elektronische Realisation betraf, die ich mit Rolf Ellmer in dessen Tonstudio vorbereitete, so konnte ich die Ergebnisse unserer Experimente erst dann für die Notation in meiner Partitur gebrauchen, nachdem diese technisch ausgereift waren. Auch dies hielt den Fortgang des Ganzen auf. So saß ich oft an meinem Schreibtisch, wollte mit der Strukturierung klanglicher Gesamtabläufe weiterkommen und war nicht immer sicher, ob alle Sampling-Techniken überhaupt durchführbar sein würden.  Die unsichtbaren Stimmen der zweiten Nummer (Spiegelungen) beispielsweise sollten aus vereinzelten Lauten dreier Wortgruppen bestehen, wobei zuerst immer eine komplette Wortgruppe eingesungen werden musste. Anschließend wollte ich die Wörter durch digitalen Schnitt in ihre Laute zerlegen und diese rhythmisch unabhängig voneinander wiederholen, so lange, bis die Konstellation der Laute zueinander den ursprünglichen Sinn des Satzes wieder herstellen würde, usw. Thomas Raisig, der Tonmeister der Alten Oper winkte ab und meinte, dies wäre unmöglich. Er war aber sehr kooperativ und zuletzt hat es  doch funktioniert. Mitte Juli 1988 waren die Experimente abgeschlossen. Ende Juli und der ganze August verliefen wie im Bilderbuch: mit meinen Söhnen Sebastian und Benjamin und ihrer Mutter Sabine reiste ich an die italiensche Riviera, mietete ein Haus mit Klavier und komponierte den düsteren ersten Teil am blauen Meer unter Italiens schönster Sonne. Zufällig wohnte auch mein Freund Michinori Bunya mit seiner Tochter Julika einen Ort weiter. Er besuchte uns oft und wenn wir nicht gerade schwimmen waren oder gemeinsam kochten, so half er mir bei der Einrichtung komplizierterer Streicherpassagen. Zum Dank schenkte ich ihm die teuerste Flasche Wein, die ich jemals gekauft habe: einen gut gelagerten Barolo 1964 von Pio Cesare. Er wollte ihn durchaus nicht alleine trinken und so wurde ein unvergesslicher gemeinsamer Genuss daraus. Um das Alter des Weines entsprechend würdigen zu können, überlegten wir, ob uns ein Meisterwerk aus diesem Jahr einfallen würde. Ich musste nicht lange nachdenken und nannte das Orchesterstück Metaboles von Dutilleux. Da waren wir uns in der Beurteilung einig. Jeder Schluck dieses samtenen Tropfens mit seiner rostbraunen Farbe schien uns einen Schritt weiter in die Vergangenheit reisen zu lassen…

Wieder zurück in Deutschland wurde mir endgültig klar: Das Libretto, also die möglichst konkrete Festlegung dessen, was man sieht, sowie die Montage der Worte, Zitate verschiedenster Epochen und Kulturen, kann erst dann abgeschlossen werden, nachdem die Musik weitere Fortschritte gemacht hätte. Ein Bericht von Othmar Schoecks Librettisten Armin Rüeger über die Entstehung der Oper Venus kam mir wieder in den Sinn. Demnach hätte Schoeck die Musik für die Schlussszene geschrieben, ohne das Libretto dazu gehabt zu haben. Rüeger musste die Verse zu der bereits vorliegenden Musik hinzudichten: die Geburt des Textes aus dem Geiste der Musik. (Das berühmte Schlagwort von Nietzsche über Wagners Musikdrama, ein wenig zurechtgebogen!). Jedenfalls kam es ab September zu interessanten Wechselwirkungen: kam die Musik voran, konkretisierten sich die Vorstellungen von den Bühnenbildern, Zeichen und Intonationen und es fanden sich Worte, wo nötig. Umgekehrt trieb das so in der Vorstellung Entstandene die musikalische Produktion weiter. Die Logik des musikalischen Ablaufes aber schien mir primär zu sein: „Prima la Musica, dopo le parole“. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich mit Angelika und Thomas nicht mehr kooperieren und die beiden waren damals verständnisvoll genug, dies zu akzeptieren.

Im Dezember wurden erste Abmischungen für das Zuspielband hergestellt: Thomas Raisig, Rolf Ellmer, sowie die Sopranistin Monica Ries, der Countertenor Ralph Mangelsdorff und der Schauspieler Hugo Scholter waren mit von der Partie.
Zu Beginn des neuen Jahres brachte mich eine Reise nach Paris, verbunden mit einem Besuch bei Dutilleux, auf andere Gedanken. Von da an arbeitete ich an der Partitur ohne Unterbrechung und Ende Mai war die Komposition beendet, die Reinschrift lag – nachdem der Uraufführungstermin auf Herbst 1991 verschoben worden war – im Oktober 1989 vor. Damit war mein Teil der Arbeit erst einmal abgeschlossen.


4. Erotische Phantasien
Hast du noch nie bemerkt, dass du, wenn du zu schauen aufhörst,
wenn du nicht zu sehen versuchst, dass du dann plötzlich siehst?
(Henry Miller „Sexus“)

In La petite Mort wird der Protagonist von uns in ein Labyrinth geschickt: es ist „die Welt seiner eigenen Seele“ die er sucht. Er wird konfrontiert mit drei weiblichen Prototypen, mit der gebärenden und gleichzeitig verschlingenden Mura, die sich im weiteren Verlauf in Inu und Lalana verwandelt. Einer Formulierung Milan Kunderas folgend könnte man diese als „Sehnsucht ohne Wollust“, jene umgekehrt als „Wollust ohne Sehnsucht“ charakterisieren: Inu hätte man sich noch sehr mädchenhaft, Lalana etwas reifer vorzustellen. Es geht hier weniger um die Vorführung von „Reizung und Reifung durch Umwelteinflüsse“, wie ein Rezensent der Frankfurter Rundschau nach der Uraufführung in spöttischem Ton zusammenfassen zu können glaubte, als um Projektion innerer Bilder nach außen. Diese Bilder mögen sattsam bekannt sein und doch erzwingen sie immer wieder aufs Neue, dass man sich mit ihnen auseinandersetzt. Im Gegensatz zur erotischen Kunst der Jahrhundertwende (19./20. Jhdt.), die stets einen auffälligen Hang zum Morbiden offenbart und als späte Revolte gegen eine Leibfeindlichkeit, die auf der konstruierten Gegensätzlichkeit von Leib und Geist beruht, interpretiert werden kann, ging es uns um die Darstellung einer anders gearteten menschlichen Befreiung. Schlagwortartig könnte man sagen: nicht Befreiung vom Eros, sondern Befreiung durch den Eros. Dass der Erkenntnisweg unseres Protagonisten nicht bei den Bildern endet, sondern diese ebenfalls transzendiert, bedeutet nicht, dass es sich bei ihnen um Abbildung von Übertretung bzw. Sünde handelt, wie es in christlichem Vokabular heißt. Auf die Bilder folgt in der achten Nummer die Poetisierung der Welt, in der die Bilder in sublimierter Form zusammengefasst sind. Deshalb benötigte ich an dieser Stelle das Dichterwort (Tagore) und die unverfremdete menschliche Stimme. Die letzte Ebene (Nummer neun) könnte man als die Stufe des Verzichts auffassen: „ein Farbenspiel“ habe ich es genannt und versucht, ein reines Schauen und Hören darzustellen. Diese Zäsur gegenüber allem Vorhergehenden hat Brigitta Mazanec denn auch treffend umschrieben: „Es scheint, als lerne die Musik das Klingen ganz neu“.

Der kleine Tod ist als eine Transformation des „Ich“ zu deuten, so, wie es ein iranischer Mystiker in Worte gefasst hat: „wo die Lieb’ erwachete, stirbt das Ich, der dunkele Despot“ und darauf lässt sich auch der Höhepunkt des Tagore-Gedichtes in der achten Nummer beziehen: „Willst du in deinen Tod dich stürzen, komm’, ach komm’ zu meinem See. Kühl ist er, unergründlich tief, dunkel wie Schlaf, den keine Träume stören. In seinen Tiefen sind Tage und Nächte eins und Schweigen sind die Lieder“. Diese Zeilen waren der zündende Funke für mich gewesen, der Blitz, der mich veranlasste, dieses Werk so und nicht anders zu beginnen. Ich suchte einen fluktuierenden Klang, in den diese Worte gleichsam hineingetaucht werden konnten, einen Klang, der alle Worte des Tagore-Gedichtes in einem Punkt zusammendrängte. Diesen Klang fand ich: wieder und wieder spielte ich ihn am Klavier, stellte mir die orchestralen Farben vor und begann in diesen Klang hinein zu singen…

 

5. Über das Lachen

Mitten in der Arbeit  wurde  mir in  zunehmendem  Maße  bewusst,  dass unser Stück auch einen  Versuch  über  das  Lachen  darstellt.  Das echte Lachen, das jenseits liegt vom Gelächter, bzw. dem Kichern wird naturaliter jedoch nicht vorgeführt: man sollte es sich ganz am Schluß –  angedeutet durch die kleine Vogel-Pointe – als Ergebnis des gesehenen und gehörten Prozesses lediglich vorstellen. Vorgeführt werden hingegen ein beinahe diabolisches Gelächter in der Labyrinth-Szene und ein spöttisches Lachen am Ende der Lalana-Szene. Beim Eintritt ins Labyrinth gilt es – wie immer – ein Hindernis zu überwinden: unser Protagonist soll sein Spiegelbild „mit einem aufrichtigen Lachen betrachten“. Es kommt zu einem grausamen Lachversuch. Abgehackte, absichtlich hervor gestoßene Laute werden derart beschleunigt, dass sie zuletzt ein grimmiges Lachen ergeben. Es ist wahrlich kein Lachen, das eine ungebrochene Daseinswonne offenbart, sondern eines, das auf die scheinbare Unsinnigkeit allen Seins verweist, ein furchtbares Lachen. Lachen wirkt oft ansteckend: plötzlich lachen andere mit. Wer sind diese? Oder handelt es sich etwa um eine Einbildung, um eine so genannte Audition?  Derartige Situationen können in bestimmten Angstzuständen auftreten. Wie im Steppenwolf-Text von Hesse gefordert, öffnet sich daraufhin das Labyrinth der Seele, das im zweiten Teil Wandlungen seine „Durchführung“ erfährt. Im Zentrum kommt es zur Begegnung mit Lalana, die in einem Rausch von Rhythmus und Körperlichkeit kulminiert, der in dieser Form nicht mehr gesteigert werden kann. Da schlägt der orgiastische Akt um ins Absurde: bevor Lalana den Protagonisten verlässt, foppt sie ihn mit einem blinde-Kuh-Spiel und verfällt unerwartet in den Tonfall eines schweizerischen Kinderschlafliedes. Diese Art, plötzlich zu sprechen „wie einem der Schnabel gewachsen ist“, hat noch nichts mit der von den unsichtbaren Stimmen der zweiten Nummer (Spiegelungen) geforderten Kindlichkeit zu tun („Werd wie ein Kind, werd taub, werd blind“). Nach der vorangegangenen „Vorstellung“ wirkt Lalana nur noch abgetakelt.

Zuletzt scheint es mir durchaus erwähnenswert, auf den Zirkel-Kanon des Farbenspiels zu verweisen, dessen vertikale Intervalle der Lalana-Reihe (handgeschriebene Partitur S. 136, Takt 86, Oberstimmen, Celesta, Flöten usw.) entstammen. So hat das am deutlichsten dem sarx (vgl. 7. Kapitel des ersten paulinischen Römerbriefes der Bibel) verhaftete Bild auf der Stufe des rein Geistigen deutliche „Spuren“ hinterlassen.

 





6. Liste der Lektüre während der Arbeit an La petite Mort

 

  1. Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. Deutsch von Gerd Henninger. Frankfurt/M. 1986 (Fischer, FFM)
  1. Klaus Theweleit: Männerphantasien. (Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Bd. 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors) Frankfurt/M. 1977 (Verlag Roter Stern, FFM)

 

  1. Barbara Sichtermann: Weiblichkeit. Zur Politik des Privaten. Berlin 1987 (Verlag Klaus Wagenbach)
  1. Walter Schubart: Religion und Eros. München 1966 (Beck)

 

  1. Georges Bataille: Der heilige Eros. Deutsch von Max Hölzer. 1963 (Luchterhand)
  1. Rabindrantath Tagore: SADHANA. Der Weg zur Vollendung. München 1921 (Kurt Wolff Verlag)

 

  1. Henry Miller: Sexus. Deutsch von Kurt Wagenseil. Hamburg 1970 (Rowohlt)
  1. Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und vom Vergessen. Deutsch von Peter Künzel. Frankfurt/M. 1983 Suhrkamp)

 

  1. Wolfgang Hildesheimer: In Erwartung der Nacht. (Collagen). 1987