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Claus Kühnl
Über Schoeck, Lachenmann
und ausgepreßte Zitronen (1999)
I.
1923 komponierte Othmar Schoeck
den Liederzyklus Gaselen, eine Vertonung der Gaselen aus der Gedichtfolge
Trinklaube von Gottfried Keller, veröffentlicht im Jahre 1883. Das
erste Gasel scheint in besonderem Maße auf die Situation zuzutreffen,
in der sich Schoeck Anfang der zwanziger Jahre befand: die Fortschritte
der jungen Moderne, wie sie in der Musik vorallem durch die zweite Wiener
Schule repräsentiert wurde, und deren Signum die Emanzipation der
Dissonanz gewesen ist, wollte oder konnte er nicht mittragen. Stattdessen
fühlte er sich als Nachgeborener, der das Erbe der Romantik verwaltet.
Er starb 1957, im gleichen Jahr wie Korngold und Sibelius, der ab Ende
der zwanziger Jahre nichts mehr schrieb, bzw. das Geschriebene verbrannte.
1949 starben die Spätromantiker Strauss und Pfitzner, 1942 Zemlinsky,
Schreker schon 1934.
Das betreffende Keller-Gasel lautet:
Unser ist das Los der Epigonen, / Die im weiten Zwischenreiche wohnen;
/ Seht wie ihr noch einen Tropfen presset / Aus den alten Schalen der
Zitronen! /
Der Begriff des Epigonentums, auf
das Schicksal des Dichters und einige seiner Zeitgenossen bezogen, erscheint
zwar pessimistisch eingefärbt, wird aber nicht als Schandvokabel
gebraucht. Mit einer gewissen Ironie schließen sich die folgenden
Zeilen an:
Geistiges ist mäßig noch vorhanden, / Auch des Lebens Süße
wird noch lohnen; / Wasser flutet uns in breiten Strömen, / Brauchen
es am wenigsten zu schonen: /
Wasser symbolisiert hier das Natürliche und
Ursprüngliche, das Einfache.
Der Dichter meint davon genug zu besitzen, um nicht damit sparen zu müssen.
Die Klage über das "Los der Epigonen" ist eine vorübergehende.
Anstelle eines linearen Fortschrittgedankens tritt ein zyklischer Gedanke
auf:
Braut den Trank für lange Winternächte, / Bis uns blühen
neue Lenzeskronen / Und der Dichtung Fahrzeug mag entrinnen / Dem Bereich
der grausen Lästrygonen! /
Den "langen Winternächten" wird ein neuer Frühling
folgen und die Hoffnung keimt auf, daß der Dichter seinen Widersachern
nicht mehr ausgesetzt sein wird. Keller wählt hier ein drastisches
Bild: die Lästrygonen sind bei Homer ein menschenfressendes Riesenvolk,
denen Odysseus nur mit Mühe entkommt.
II.
Im Sommer 1998 veranstalteten die Darmstädter Ferienkurse
u.a. ein dreitägiges Seminar mit Helmut Lachenmann, einem Musiker,
der Vielen immer noch als einer der wesentlichen Repräsentanten der
Avantgarde gilt. Wer jedoch glaubte, neue Impulse durch seinen Vortrag
zu empfangen, sah sich getäuscht. Wie ein die Situation vergiftendes
Motto klangen seine einleitenden Worte: daß er seit einigen Jahren
die Empfindung habe zu stagnieren, sich im Kreise zu drehen und daß
er bei Anderen die gleiche Stagnation beobachte. So und so ähnlich
äußerte sich Lachenmann auch schon bei früheren Gelegenheiten.
Folglich analysierte er in den drei Tagen an und für sich Bekanntes
wie das Streichquartett von Luigi Nono sowie Teile aus eigenen, älteren
Werken.
Ich selbst habe in den letzten 20 Jahren kein einziges Musikstück
gehört, das ich als innovativ bezeichnen würde, wenn ich es
mit dem Blick der Moderne messen sollte. Ausgepreßte Zitronen? Der
Unterschied zwischen den genannten Spätromantikern und manchen Heutigen
besteht darin, daß diese das damals Neue bewußt nicht aufgegriffen
haben, während jene glauben, nichts Neues mehr entwickeln zu können.
III.
Haben wir uns also von Erfindern zu Benutzern gewandelt?
Für viele heute lebende Kunsthandwerker trifft das sicherlich zu.
Sie greifen ohne Bedenken, sei es aus Geldgier oder Dummheit, in den immensen
Schatz der Vergangenheit und setzen das Benutzte mehr oder weniger effektvoll
zusammen oder kopieren lediglich einen bereits vorhandenen Stil.
Es gilt zwar, daß keine Erfindung ohne Benutzung möglich ist,
umgekehrt sollte es aber keine Benutzung ohne Erfindung, die über
das Benutzte hinausweist, geben. Was nützen all die immensen Möglichkeiten,
wenn ich nicht weiß, was ich überhaupt will. Das Komponieren
ist für den reifen Künstler dadurch weder leichter noch schwieriger
geworden, lediglich sein Bewußtsein hat sich gegenüber früheren
Zeiten verändert.
Ein herausragendes Beispiel für einen kreativen Umgang mit vorhandenem
Material stellt die Kompositionstechnik Olivier Messiaens dar. Schon in
seinen frühen Werken, etwa im Quatuor pour la fin du temps (1941), finden sich Rückgriffe auf mittelalterliche Formprinzipien,
etwa das der isorhythmischen Motette mit ihrer getrennten Behandlung von
Tondauern (talea) und Tonhöhen (colores). Im ersten Satz, Liturgie
de cristal, wiederholt das Klavier einen Rhythmus aus 17 Tondauern,
der mit 29 Akkorden, die sich ebenfalls wiederholen, "gefärbt"
wird. Diesen Rhythmus wiederum gewinnt Messiaen aus der "Interpretation"
des indischen Rhythmus râgavardhana:
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An den indischen Rhythmen reizt Messiaen
vorallem das unregelmäßige Metrum, wie es im vorliegenden Beispiel
durch die punktierte Achtel zustande kommt. Er spricht von dem Punkt als
von einem hinzugefügten Wert (valeur ajoutée). Solch ein hinzugefügter
Wert kann außerdem eine kurze Note oder eine kurze Pause sein. Râgavardhana
ist für Messiaen noch aus einem anderen Grund attraktiv: er liebt
die - wie er sie nennt - nicht umkehrbaren Rhythmen (rythme non rétrogradable):
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=
nicht umkehrbar, |
da der Krebs der Tondauern denselben Rhythmus
ergibt. Im folgenden gliedert Messiaen den benutzten Rhythmus in zwei
Gruppen, vertauscht diese in der Reihenfolge, teilt die punktierte Halbe
in drei Viertel und erkennt, daß das Fragment B eine ungenaue
Verkleinerung von Fragment A darstellt:
Nun führt Messiaen diesen Prozeß
zu Ende, indem er entscheidet, daß B immer eine ungenaue
Verkleinerung oder Vergrößerung von A zu sein hat. So
entsteht ein typischer Messiaen-Rhythmus mit 17 Anschlägen (Für
Primzahlen hat der Komponist ebenfalls eine Vorliebe):
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Desweiteren greift Messiaen auf alle möglichen
Arten von Liedformen zurück, er benutzt den gregorianischen Choral
ebenso wie virtuose Figuren, die an Liszt und Debussy erinnern, läßt
sich vom griechischen Versmaß inspirieren und ahmt auf seine unnachahmliche
Weise den Gesang der Vögel der ganzen Welt nach.
Ich habe Messiaen als Beispiel für ein kreatives Benutzen vorhandener
Quellen genannt, weil seine Musik so unverwechselbar, so frisch und kontrastreich
klingt, daß er als Lehrer Vorbild für eine ganze Reihe jüngerer
Komponisten geworden ist. Seine Musik wirkte neu in den vierziger Jahren
bis in die siebziger Jahre hinein durch ihre monolithischen Formen, ihre
sukzessive Polyphonie und ihre Polyphonie der Schichten, durch ihre gleißende
Farbigkeit und ihre Grenzen sprengende Vitalität.
Durch genaues Arbeiten und dem Nachspüren der eigenen einmaligen
Konstellation und der Auseinandersetzung mit der uns umgebenden Welt,
die wohl nach und nach immer transparenter wird, kann weiterhin Neues
entstehen, ohne daß eine Materialerweiterung zustande kommen muß.
Das schöpferische "Interpretieren" des Vorhandenen, vorallem
die immer tiefere Durchdringung dessen was die Moderne im 20. Jahrhundert
aufgeworfen hat, scheint mir eine vordringliche Aufgabe des Künstlers
im 21. Jahrhundert zu sein.
Oktober 1999
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